WOLFGANG NEUMANN Rede im Rahmen der Protestwoche gegen Studiengebühren

Wolfgang Neumann
Stuttgart, Staatliche Akademie der Bildenden Künste
Im Rahmen der Protestwoche gg. Studiengebühren und der Ausstellung Spaceless
in Neubau II, 18. Januar 2017
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Ich freue mich, dass ich heute eingeladen wurde den Internationalen Abend zur Ausstellung „Spaceless“ und der Protestwoche mit ihrem reichhaltigen Begleitprogramm zu eröffnen. 
Ich möchte mich kurz vorstellen: Mein Name ist Wolfgang Neumann, ich habe – ähnlich wie viele von Ihnen im Augenblick – vor einigen Jahren einmal hier an der Akademie studiert. Malerei und auch Intermediales Gestalten. Seitdem habe ich sowohl als freischaffender Künstler, wie auch als Lehrender an verschiedenen Schulen und Hochschulen gearbeitet. 

Bei der Ausstellungseröffnung wurde von Prof. Büttner schon der Stellenwert der Wahrnehmungserweiterung durch andere Kulturen angesprochen. Was einerseits eine Art Kulturschock auslöst ist andererseits sehr dienlich den eurozentristischen Blick auf Kunstgeschichte und auch auf Gegenwartskunst neu zu justieren. Holger Bunk wiederum führte sehr persönlich ein in die Entstehung dieses bereits langjährigen Kontakts zwischen zwei Lehrpersonen, Prof. Shin Hasoon und ihm, die immer wieder zu intensiver Zusammenarbeit und gegenseitigen Besuchen von Studierenden zu solch wunderbaren Ausstellungsprojekten geführt hat, wie man es bei spaceless sowohl in Korea, wie jetzt auch hier in Stuttgart erleben konnte und kann. Das persönliche Engagement aller Seiten finde ich dabei bewundernswert, da ist ja nicht nur die Ausstellung, die transportiert und aufgebaut werden muss, sondern auch noch ein umfangreicher und schön gestalteter Katalog mit Hintergrundinformationen, der in der Werkstatt von Katja Liebig gebunden wurde und den ich dringend empfehlen möchte. Für die Finanzierung wurde sehr viel persönlicher Einsatz von Zeit und Geld investiert, was größten Respekt verdient. Das macht man nur – und das ist deutlich zu spüren als Besucher der Ausstellung – wenn dahinter auch ein großer Mehrwert für die Beteiligten zu finden ist. Es hat Vorbildcharakter. 

Mein Beitrag setzt sich aus zwei Teilen zusammen, zunächst will ich auf das Thema der Protestwoche – den Studiengebühren - noch einmal eingehen und im Anschluss daran will ich zur Ausstellung selbst überleiten.

I Protestteil
Im Jahr 1956 setzte ein junger Koreaner in München an einer Musikhochschule ein Studium fort, später in Köln bei Karlheinz Stockhausen. Er wurde von der experimentellen Musik vom Düsseldorfer Kunstprofessor K.O. Götz zur Kunst gebracht und fand schon ab 1962 mit Fluxusaktionen und manipulierten Röhrenbildschirmen große Aufmerksamkeit. Wir alle kennen seine Arbeit, z.B. aus dem Foyer dieses Gebäudes, und Sie wissen natürlich bereits, dass es sich hierbei um Nam June Paik handelt, der es als Pionier der Video- und Medienkunst verstand östliche und westliche Einflüsse in seinen Werken zu verknüpfen. Er selbst war dann später 17 Jahre Professor an der Kunstakademie Düsseldorf. 
Solche Geschichten gibt es auch heute immer wieder. Aktuell läuft in der Pinakothek der Moderne München noch eine beeindruckende Ausstellung „Radically Simple“ mit Plänen und Modellen nachhaltiger Architektur aus dem Büro des in Burkina Faso geborenen Architekten Francis Kéré (Jg. 1965). Ich kann sie nur empfehlen. Er ist u.a. bekannt vom Operndorfprojekt mit Christoph Schlingensief. Nach einem Studium an der TU Berlin hat er sein weltweit agierendes Büro noch immer in Berlin und versteht sich als Architekt „based in Germany“: verwurzelt in Deutschland, während er inzwischen als Professor in Harvard unterrichtet.
Man kann sich die Frage stellen, ob solche Menschen (Paik war Flüchtling im Koreakrieg, Kéré das erste Kind überhaupt in seinem Dorf Gando, das zur Schule gehen durfte) ein Studium mit dieser finanziellen Auflage hätten leisten können.

Die ministeriellen Pläne einer Semestergebühr für Studierende aus Nicht-EU Ländern von 1500 Euro sind nicht sinnvoll und nicht akzeptabel. Besonders an dieser Hochschule haben es die Menschen schnell erkannt, sich solidarisiert und lautstark dagegen gestellt. Dieses Engagement ist wichtig.

1500 Euro sind, gegengerechnet mit 8.84 Euro Mindestlohn genau 170 verlorene Stunden für das Studium. Es sind volle 22 Arbeitstage, also ein kompletter Monat pro Semester zusätzliche Arbeit, was von der Qualität des Studiums abgezogen werden muss. Es ist ein starker Nachteil gegenüber allen anderen Studierenden, die hier im Ballungsraum ohnehin mit besonders hohen Lebenskosten zurecht kommen müssen. Diese Ungleichbehandlung erinnert eben an Protektionismus und Strafzölle, sie wird aus der Unterstellung gespeist, dass Menschen nur hierher kommen um preiswert ein teures Studium abzugreifen. Dass jeder dieser Studierenden aber auch etwas mitbringt und ein Kultur-Botschafter ist, das wird mit dieser sehr ungastfreundlichen Regelung leider vergessen.
Welcher Student überlegt sich da nicht einfach eine andere Hochschule außerhalb Baden-Württembergs zu besuchen? Es wird also zum Standortnachteil für die Studierendenzahlen und den mühsam aufgebauten internationalen Austausch, auch im Wettbewerb der Hochschulen werden. Zum Standortnachteil wird es natürlich auch in der Lehre, denn welcher hochqualifizierte Wissenschaftler möchte an Hochschulen unterrichten, die sich mit einer für sein Fachgebiet grundlegend wichtigen Internationalisierung schwertun.
Studierende, die aus dem Ausland hierher kommen haben oft schon ein Studium absolviert; durch diese Vorqualifikation wissen sie oft genau, was sie wollen und steigen sehr bewusst und zielstrebig hier in ein Zweit- oder Aufbaustudium ein. Diese Reife und Erfahrung ist im Austausch für die Studierenden hier sehr wichtig.

Ich kann aus meiner eigenen Studienzeit berichten, dass es sehr viele unterschiedliche Nationalitäten in der Klasse gab. Auch viele aus Nicht-EU Staaten, ich glaube damals waren es allein 7 Nationen. Wir haben z.B. ein internationales Ausstellungsprojekt gemacht, der Titel war „Denken viel". Auf dem Cover des Katalogs der Titel in allen Sprachen. Es wurde zu Büchern verschiedenster Autoren reflektiert, diskutiert und gearbeitet. Die Arbeit mündete in eine Ausstellung in der Stadtbibliothek, in deren Rahmen auch wichtige Autoren zu Gast waren, z.B. Emine Özdamar. Ich habe in Tage- und nächtelanger Arbeit den Katalog gestaltet und kann den Aufwand einer solchen Ausstellung also recht gut verstehen! Es entstand damals auch das Interesse, die Studierenden in ihren Heimatländern zu besuchen, so kam es zu Klassenexkursionen in die Türkei und nach China, die von den Gaststudenten teils geleitet wurden. Es fand hier immer ein reger Austausch statt und wesentliche Impulse davon ausgegangen.

Die Studiengebühr ist als Finanzkonstrukt ein Kuddelmuddel, das überhaupt keine Steuerungsfunktionen verfolgt, wenn 80 % dieser insgesamt veranschlagten 48 Millionen in den allgemeinen Haushalt gehen sollen und 20 % an die Hochschule, die mit diesen Studierenden im Grunde keine Mehrkosten hat. Konsolidierung ist sicher notwendig, auch eine realpolitische Verteilung über Ressorts hinweg. Wobei das öffentliche Schuldenmachen oder Umschulden in Nullzinszeiten von manchen Finanzexperten durchaus im Sinne von Investitionen als gerechtfertigt und sinnvoll bewertet wird. Und dabei meinen sie vorwiegend Infrastruktur und Bildung, nicht Prestigeobjekte. Die Studierenden müssen also unsere hierzulande verursachten Schuldenlöcher stopfen und bezahlen damit nicht ihr Studium. Die Generationengerechtigkeit, diese Summen auf Menschen in der Ausbildung abzuwälzen, sei auch angesprochen.
Wir haben uns ja an große Summen gewöhnt, die leichtfertig politisch eingesetzt werden. Im Vergleich zum Flurschaden in den Studierendenzahlen klingt dieser für den einzelnen Studenten schmerzlich abzuleistende Betrag nicht besonders hoch: 48 Millionen bot der Fußballclub Inter-Mailand im November als Ablöse für einen mäßig erfolgreichen Trainer. Die „Vibrant Curiosity“, die Privatyacht von Kunstsammler und Schraubenproduzent Reinhold Würth, kostete in der Anschaffung mit 85 Millionen Euro etwa das Doppelte. Das Milaneo, unser schönes Einkaufszentrum an der Baugrube, mehr als das Zehnfache.

Studierende aus dem Ausland haben es ohnehin nicht ganz einfach in unserem Land. Das schon einmal abgesehen von den zunehmend offenen Fremdenfeindlichkeiten. Bei der Jobsuche hier gibt es Barrieren, die Wohnungssuche gestaltet sich schwerer, der Mietspiegel steigt stetig. Viele stehen auch bei Ämtern aufgrund von Finanzierungsnachweisen usw. stark unter Druck. Sprachkurse, die ja privat belegt werden müssen, kosten Geld und Zeit. Es liegt nahe, dass sich schon jetzt nur Studierende auf den Weg machen, die sich das leisten können, also aus besserverdienenden Haushalten kommen. Dieser Effekt wird durch eine Studiengebühr stark weiter verschärft. Die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit) warnt schon seit Jahren, dass die Wirtschaftsentwicklung von der Ungleichheit der Verteilung von Bildungschancen massiv beeinträchtigt wird. Deutschland hat hier schon lange ein Problem, denn die Investitionen in Bildung sind gemessen am Bundesinlandsprodukt mit knapp über 5% noch immer unterdurchschnittlich, wenn man mit anderen Ländern vergleicht. Die Investitionen zahlen sich aber aus und sind keine verlorenen Abschreibungskosten.

Dabei sind Studierende aus dem Ausland bereits an der Hochschule erfolgreich. Zahlreiche Akademiepreise und Stipendien, auch Beteiligungen an Ausstellungen, beispielsweise in der Bundeskunsthalle Bonn, sprechen eine klare Sprache. Studierende aus dem Ausland sind eine Brücke für uns in den Rest der Welt, denn auch die Märkte und Messen verlagern sind zusehends nach Shanghai, Hong Kong, Seoul, Singapur und Dubai usw. Doch auch hier sind Künstler aus dem Ausland ein Wirtschaftsfaktor. Auch wenn man vielleicht entgegen des Fachkräftemangels schwer behaupten kann, dass es nicht genügend Künstler gibt: es gibt sehr erfolgreiche ehemalige Studierende der Kunstakademie Stuttgart, die aus China, Äthiopien, Israel, Korea usw. kommen und bundesweit bei zahlreichen Galerien und Institutionen ausgestellt werden, die inzwischen auch selbstverständlich Mitglieder im Künstlerbund Baden-Württemberg sind und mit ihrer Arbeit unser Land vielfältiger und reicher machen. Für andere Wissenschaftsfelder und Wirtschaftsbereiche kann ich es mir kaum anders vorstellen.
Bis jetzt wurde eine Internationalisierung und Öffnung unserer Schulen und Hochschulen gefördert und verlangt und sie wird mit Lust und Gewinn für alle Seiten von den Lehrenden unterstützt. Die selektive Studiengebühr läuft dem zugegen.
Darum erscheint dieses Mittel auch zu einer Unzeit, wo protektionistische Tendenzen und offene Ausländerfeindlichkeit wieder sichtbar werden und solche Vorschläge wie ein vorauseilendes Zugeständnis an rechtspopulistische Parteien wirken müssen. Eine Zeit, in der mit Negativzinsen die Guthaben der gesellschaftlichen Mitte zusehends verbrannt werden und zudem globale Wertschöpfungsprozesse nicht nur durch Klimawandel und Arbeitsverhältnisse an ihre Grenzen gestoßen sind. Das Wissen darum, die Ahnung von Wandlungen auch auf unserem Kontinent schafft Unsicherheit, Ängste und schlechte Emotionen. 
Nationalstaatliches und unterkomplexes Denken scheint in der Folge im Aufwind, der Europäische Gedanke wird als unliebsamer Bürokraten-Ballast in die Ecke gestellt und die Union bröckelt, dabei hat er uns eine beispiellos lange friedliche Periode nach dem zweiten Weltkrieg beschert. Und da möchte man sich hier weiter isolieren? Die Gefahr für den Staat, so ein Politikwissenschaftler letzte Woche im Deutschlandfunk (den Namen habe ich leider nicht behalten), geht nicht von einer Partei wie der AfD aus, die als Protestpartei in ein paar Parlamenten sitzt und dort angekommen nachweislich selbst fast nichts bewegt, sie geht von den etablierten Parteien aus, die sich aus Furcht vor dem Verlust von Wahlstimmen an diese Angstschürer zu Zugeständnissen hinreißen lässt. Am Montag wurde veröffentlicht, dass das Finanzministerium überraschenderweise fast 1 Milliarde mehr Steuereinnahmen vom letzten Jahr realisiert hat, als noch vor zwei Monaten geschätzt wurde. Das ist das zwanzigfache der Summe, die man jetzt sparen möchte. Wenn diese Gebühr nun aufrecht erhalten wird, muss man von politischem Kalkül und Zugeständnissen an latent fremdenfeindliche Wählergruppen ausgehen. Und das ausgerechnet in einem Bundesland, in dem wir seit Jahrzehnten viel Erfahrung mit Zuwanderung haben wesentlich mehr gut gelungene Integrationsleistung vorweisen können als sich die gröhlenden Angsthasen aus Bautzen vorstellen können, ich weiß es von über 10 Jahren Arbeit an Schulen. 
Es wäre doch in Zeiten des demoskopischen Wandels, der Vergreisung unserer Gesellschaft, keine schlechte Hoffnung, dass sich die hochqualifizierten und engagierten jungen Menschen auch über das Studium hinaus hier wohl fühlen. 
Ich erinnere nochmal an Nam June Paik und Francis Kéré.
Der argumentative Protest-Teil meines Beitrags ist damit abgeschlossen. Nach der Kritik soll auf konstruktive Weise die Ausstellung aus positives Beispiel hervorgehoben werden. Ich möchte, es war in der Ausstellungseröffnung so noch nicht der Fall, nun noch ein paar Spotlights auf Werke in der Ausstellung werfen und diese würdigen. 

Spaceless (Raumlos – Grenzenlos) ist ein treffender Titel dafür, denn all dieses fällt in eine Zeit hinein, in der wir wie erwähnt politisch und gesellschaftlich wieder über längst überwundene Hürden und Grenzen zu sprechen haben, wo mit „we´re gonna build a wall (and they are gonna pay for it)“ mehr Stimmung zu machen ist als mit „tear down this wall“. Spaceless erinnert da, ähnlich wie der naiv-utopische John Lennon Song Imagine („Imagine there´s no heaven, no countries ...“), an eine enge Verknüpfung zwischen Menschen. Der Titel zeigt aber auch die Gleichzeitigkeit von Kunst an verschiedenen Orten. Und – Zeit und Raum sind ja verbundene Konstanten – sogar die örtliche Gleichzeitigkeit verschiedener stilistischer Epochen. Denn als verbindendes Thema diente der Ausstellung das traditionsreiche asiatische Rollbild. 

Bei der Ausstellung, die im Oktober bereits an der Universität in Seoul zu sehen war, sind hier 18 Künstlerinnen und Künstler beteiligt. Sie wurde über ein Jahr hinweg entwickelt, in dem man Zeit hatte sich mit dem vorgegebenen Thema spaceless – der bezogen auf das asiatische Rollbild gewählt wurde auseinanderzusetzen. Diese Zeit wurde auch genutzt, um den Dialog auf viele Hochschulen auszuweiten, auch bis hin nach Japan und China. Es war, so habe ich erfahren, durchaus eine Herausforderung sich aktiv und experimentell auf alternative Kunstbegriffe, alternative Materialitäten und Arbeitsprozesse und damit auch alternative Erwartungshaltungen bezüglich des Kunstschaffens einzulassen. 
Die Einflüsse ferner Kulturen sind gar nicht so neu, wir alle kennen schon vor der Moderne direkte und sichtbare Reaktionen europäischer Künstler auf japanische Holzschnitte (z.B. van Gogh) oder später afrikanischer und amerikanischer Stammeskunst (Picasso; Max Ernst). Dabei schleicht sich manchmal der Eindruck einer „Mitnahmementalität“ ein, mit der man diese Artefakte sozusagen als postkolonialistisches als Souvenir hierher brachte und für eigene Kunst nutzbar machte. Hartnäckig hält sich ein Koordinatensystem einer linearen Kunstentwicklung, das in Europa mit frühen Kulturen begann und dann über die alten Griechen bis hin zu den Avantgarden im 20. Jahrhundert und ihren Nachläufern bis heute ausdifferenziert wurde. Dieses Bild hat natürlich viele blinde Flecken. Der Focus im globalen Ausstellungsbetrieb und Kunsthandel hat aber – entsprechend der Weltwirtschaftsentwicklung und der Verlagerung von Kapital – schon lange Tendenzen nach Asien. Das sieht man an den Biennalen, den Messen und dem Handelsvolumen mit Kunst. Hier gibt es einen großen Markt mit nach wie vor traditioneller Kunst, geschaffen mit althergebrachten Motiven und Materialien, für die auch Höchstpreise erreicht werden, was sich von unserem Blick auf Kunst, der immer das Neue, Aufregende und Revolutionäre in den Mittelpunkt rückt, stark unterscheidet. Es gibt also verschiedene Achsen. Die zeitgenössische Kunst entwickelt sich zeitgleich. 

Zum Rollbild selbst schreibt Prof. Holger Bunk in seinem interessanten Einführungstext, den ich mir zu zitieren erlaube:

S. 6 -7 (Ausstellungskatalog „spaceless“)

Im Überblick zeigt die Ausstellung, dass sich einige der Künstler im Format und Material dem Rollbild genähert haben. Vor allem zahlreiche Papiersorten sind ausgewählt worden. Das Bild ist häufig nicht wie gewohnt als abgeschlossene Tafelbild-Einheit in einem kleinen Rahmen fix am Nagel gehängt und hinter Glas versteckt, sondern es findet sich eine Bildreihe, ein Bildzirkel, eine Bild-bahn oder ein Bildfluss. Das komplett überschaubare, eindeutig vom richtigen Betrachterstandpunkt funktionierende Bild ist hier rar. Der Bildträger wird eher zum Objekt im Raum, auch seine Kontur, Ausrichtung, Opazität, ja sogar der Klang des Papiers beim Anfassen rückte ins Blickfeld.
Es folgt nun eine sehr subjektive Auswahl möglichst verschiedener Werke, es würde eben zu weit führen alle 18 Werke ausführlich zu besprechen:

Exploration, Zeichnung , 154x154 cm von Carmen Bemmerer
Exploration bedeutet im Kontext der Geologie die Erschließung und Suche nach Rohstoffvorkommen und Lagerstätten in der Erdkruste.
In einem großen Kreisfächer angeordnet liegen 22 Blätter mit Zeichnungen auf dem Boden. Sie sind nicht flüchtig hingeworfen, ihre Lage ist nicht auf Stoß, sondern überlappend wie Schuppen, auseinandergezogen wie ein Kartenspiel. Die Ecken der Formate ragen wie die Zähne eines Sägeblattes aus dem Rund heraus. Alle Blätter sind formatfüllend mit Verästelungen bezeichnet. Die Motive setzen sich blattübergreifend versatzlos fort, man erkennt, dass sie sich passende Klammern geben und die Form sich somit zwingt. Formplastisch und fast fotorealistisch sind die knorrigen und verdrillten Auswüchse eines Baumes, möglicherweise einer Kirsche, mit Grafit darauf gezeichnet. Es blüht und sprießt nichts daran. Ob sich die grafische Textur unter den überdeckten Parts fortsetzt bleibt eine unbeantwortete Frage. Der Hintergrund ist neutral und wie freigestellt weiß – Nichts - . Man sieht keine Arbeitsspuren, es wurde sehr kontrolliert und sauber mit spitzem Stift gearbeitet, was eine nüchterne Sachlichkeit ausstrahlt. Dynamik zeigt eher die Form der Bildträger und die serielle Rasterung der Äste und Stämme, die in ein rotierendes Drehmoment überleiten. Die charakteristischen Richtungsachsen der Gewächse sind aber nicht parallel, sondern innerhalb der Umdrehung gebrochen, so wird es von ferne gesehen nicht zur geflochtenen Dornenkrone und zeigt nur eine fragile Verbindung in der Summe der Einzelteile. Wenn man die Augen kreisen lässt oder um die Blätter herumläuft, so stellt sich ein filmisches Moment ein und man ist an Phantaskope erinnert, an frühes Drehscheibenkino. Das Rollbild wird zum Rollfilm. Die einzelnen Bilder als Frames, die sich wegen der Flüchtigkeit und Trägheit unserer Augenblicke zum Ganzen verschmelzen. 
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Holger Bunk: Nutzlos, Acryl auf Leinwand, 156 x 44,5 cm, Scheibe
Eine fast mannshohe Leinwand in überlangem Format klemmt an einer schrägen spiegelnden Glasscheibe, die auf dem Boden an die Wand gelehnt steht. Die Leinwand wölbt sich leicht wie ein Papierstreifen, sie hat keinen Keilrahmen und erhält schon durch die Präsentation einen Zwitterzustand zwischen Tafel- und Rollbild, zwischen Distanziertheit und Direktheit, denn von den Seiten sieht man die matte Oberfläche der Malerei und frontal das Glas, welches den Blick verändert, auf der einen Seite Farben vertieft und unser Bild zurückspiegelt. Das Motiv zeigt die Figur eines (ganz in Zivil gekleideten) Malers, die durch einen gewölbten Raum schreitet, durch eine Art Tor, flankiert von zwei mit Bildmotiven überzogenen eckigen Säulen; die Perspektive im Raum ist angedeutet, was durch die Größe und Form der mit Strahlen gesäumten schwarzen Löcher und die Dichte der Streifen suggeriert wird. Die männliche Figur – ein Maler wiegesagt, der Protagonist speist sich aus Alasdair Grays Buch „Five Letters from an Eastern Empire“ – präsentiert was mit fremder Schrift gülden auf seinen gemalten Blättern zu lesen ist und was zugleich die künstlerische Freiheit definiert: „ich bin nutzlos.“ 
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Monika Ehret: Rollbild to go, Auflagenobjekt
Als begehrter Publikumsrenner entpuppte sich schon bei der Ausstellung in Korea das Auflagenobjekt „Rollbild to go“ in Form eines rosafarbenen Verkaufsautomaten. Vor fast 70 Jahren diente die Maschine zum Einkauf von Würsten. Von daher hat sie nach wie vor die kleinen Hülsenformen, die nun durch Miniatur-Rollbilder gefüllt sind. Man kann sie nach wie vor mit einer Deutschen Mark herauslösen, was bereits sentimentale Gefühle auslösen könnte. Das enthaltene Multiple ist ein mit goldenem Faden und traditionellem Knoten verschlossenes Crossover aus einem Linolschnitt auf Reispapier und einem rosa-karierten Hemdenstoff. Das Motiv zeigt den röhrenden Hirsch an Alpen und Nadelbaum und –hoppla – an einem blühenden Kirschbaum. Mit Augenzwinkern werden die größten Plattitüden Klischees von Ost und West zwischen heimattümelndem Bierzelt-Trachtengewand und Traditionskitsch als preiswerte Souvenirs verwurstet. Und das im Gewande von hochwertiger signierter Auflagenkunst im Handtaschenformat. Ein Automat, der auch im Großstadtdschungel von Tokyo so sicherlich noch fehlt. 
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Elisabeth Festl: O.T., Öl auf Leinwand 135x155 cm
Das nicht ganz quadratische Großformat auf Leinwand überrascht durch Schlichtheit und Bescheidenheit. Kein vordergründiges Motiv und keine Kontur drängt sich dem Betrachter auf. In sensibel aufgetragenen pastelligen Mischungen inszeniert die Künstlerin zahlreiche Nuancen und Farbübergänge, die sich erst bei längerer Beobachtung entfalten und erst dann, wenn man sich von verschiedenen Seiten und Standpunkten nähert. Von Weiß über sehr unterschiedliche Gelbtöne bis hin zu einem farbreichen festen Grau. Das Bild verliert selbst seine Koordinaten öffnet sich über seine Ränder hinaus und zeigt Bewegung, Schwingung und Tiefenraum. Teils hat es glänzende, teil matte Oberflächenteile. Die Verbindung zu ostasiatischer Tradition liegt in der differenzierten Betrachtung von Natur und Stimmung. Inhaltliche Logik, Perspektive und Farbordnung tritt demgegenüber in den Hintergrund. Das Rollbild entrollt sich in die Tiefe der Malerei hinein.

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Nils-Simon Fischer, 47100K, 8° Grafit, Buntstift u. Tusche auf Papier, 107x229,5 cm
Einer sehr konzeptuellen Arbeit hat sich Nils-Simon Fischer gewidmet: ausgehend von den Fixpunkten Stuttgart und Seoul zog er auf der Weltkarte eine Linie und nahm den Neigungswinkel von 8Grad und die Reisezeit von 13 Stunden Flug als Einheit für ein mathematisch anmutendes Werk. Für jede Stunde ist auf diesem großen Format ein größeres Quadrat vorgesehen, dass sich seinerseits wiederum aus vielen kleinen quadratischen Kästchen mit 2mm Seitenlänge zusammensetzt. Insgesamt sind es 47100 Karos, denen jeweils eine grafische Binnenstruktur eingegeben wurde. Das Blatt wuchs stringent in einem langwierigen Prozess, statt 13 Stunden eher 13 Tage. Die geplante Vorgehensweise schaltet den emotionalen Teil der handwerklichen Zeichnerarbeit ins kleinste Glied herunter. Man vermutet fast ein Produkt maschineller und logarithmengesteuerter Machart vor sich zu haben. Fingerabdrücke Fehlanzeige. Jede kleine Einheit ist mit unterschiedlichsten feinsten Linien ausformuliert, Schraffuren wie auch Raster neben diagrammhaften oder seismographischen Ausschlägen. Mal schwarz weiss, mal weiss schwarz, mitunter auch rot dabei, gestreut und geballt, oft stark verdichtet und überlagert. Es entstehen flirrende Flächen mit Effekten aus der Optical Art. Linie und Fläche wechseln sich ab. Doch immer abwechslungsreich und spielerisch. Die Linien sind so fein, dass sie ohne Lupe kaum erkennbar sind. Das Bild kann im Katalog und der Reproduktion allgemein nur sehr ungenau dargestellt werden, da sich im Druck solch zarte Lineamente überhaupt nicht darstellen lassen, das ist eine Gemeinsamkeit mit feinster Kupferstichgrafik von Albrecht Dürer, die das bloße Auge überfordert.
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Jinjoo Lee: Shan Shui je 39,5 x 90 cm
Zwei Blätter in länglichem Hochformat hängen als Paar nebeneinander. Ein weißer Rahmen säumt die collagenhaft eingefügten Teile, die jeweils fast monochrom gehalten sind. Dadurch wirkt es wie eine Auflagenarbeit, bei näherer Betrachtung stellt sich das nur als die halbe Wahrheit heraus, es handelt sich um eine Kombination von Serigrafie, was man auch an Rastern sehen kann, mit Handzeichnung / Malerei. Grafisches steht gegen Flächiges. Die Bereiche überlagern und durchdringen sich nicht, sondern stehen eigenartig nebeneinander und voreinander. Die Aufteilung der Motive, die in Struktur und Inhalt Landschaftliches in unterschiedlichem Fokus und Größenverhältnis aufeinander beziehen, reagiert auf die Malerei „Monyu-dowon-do“ aus der frühen Joseon-Dynastie (ab dem 15. Jhdt. In Korea). Die Künstlerin sucht ein Bild für einen Dreiklang: auf der einen Seite Natur und auf der anderen Seite das himmlische Utopia und als drittes den Grenzbereich dazwischen. Die Repräsentation von Natur durch Ausschnitthaftigkeit ist übrigens auch viel in fernöstlicher Architektur und Gartenbau anzutreffen. So gilt beispielsweise in Bezug auf die weitverbreiteten Bonsaibäume (Penjing) der Grundsatz, „im Kleinen zugleich das Große“ zu erblicken.
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Tiin Kurtz; lippentaster, 41 Gedichte, 16 Zeichnungen, 0,33 x 10,27 m
Das Rollbild verläuft nicht der Breite nach, wie bei den Arbeiten zuvor sondern von oben nach unten. Dichtung und Bild gehen zusammen, Schrift und Zeichnung. Auf über 10 Meter Länge entrollt sich hier hängend von oben eine Abfolge von 41 kurzen Poemen, die von 16 Zeichnungen immer wieder unterteilt werden und wie ein Teppich vor den Betrachterfüßen zum Liegen kommt. Das Papier erscheint durchlässig und transparent, die stiltreue schnörkelige Schreibschrift ist mit Bleistift blockhaft eingepflegt während die Zeichnungen, immer ein prägendes Element darstellend, mit rotem Farbstift wie Vignetten dazwischen stehen. Die Zeichnungen zeigen fragmentarisch Figuratives. Die Außenlinie entwickelt sicher und ohne den Stift abzusetzen konturierte Körper: Eher gesichtslose Protagonisten in Posen. Darin immer wieder volle Flächen und ausgefüllte Schattenschnitte. Die Schilderung der Wirklichkeit wird hier sehr subjektiv emotional, fast traumwandlerisch umgesetzt. Die Künstlerin bezeichnet sie gar als individuelle Geschöpfe. Ein Beispiel, passend zu den Temperaturen:

Kälteeinbruch

Das moos breche ich im
Laufschritt statt gras krater
In geeistem heu springe ich 
In die vertikale bin ich ein
Säugetier am stamm derer auf 
Leine horche ich wie gefrorene
Wäsche gegen nordost. 
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Eva Weingart, spaceless Kurzfilm
Der mit 13.30 Min gar nicht mal kurze Kurzfilm „spaceless“ trägt gleichsam den Titel der Ausstellung. Atmosphärisch und nachdenklich werden auch hier Bild und Text, gesprochen, verbunden. Das Video setzt sich mit Lebenskultur auseinander. Sie muss nicht immer durch den Geburtsort und Nationalität bestimmt sein, sondern kann in unserer Zeit von Youtube und Skype auch über große Distanz virtuell erlebt und im echten Leben nach Gusto „nachgebaut“ werden. Die Künstlerin lernte mehr durch Zufall eine junge Frau kennen, die zwar noch nie selbst in Korea war, sich aber rund um die Uhr über nahezu alle erreichbaren Medien stark mit dem Land auseinandersetzt. Trends und Tradition von Ernährung angefangen bis hin zur Musik vermischen sich zu einem Image koreanischen Lebens, das sie hier – unterstützt von Freundinnen – in ihren Alltag implantiert wie einen bunten Tropenfisch ins Kaltwasseraquarium. Ist es Weltflucht oder Welterweiterung? Ist die kulturelle Erlebnistiefe tragfähig oder flach, konkret oder kitschig? Es erinnert mich an Karl May, der als Utopist regalmeterweise und detailliert Topographien des Wilden Westens entwarf ohne je dort gewesen zu sein, und der unsere Vorstellung mit diesen Phantasmen auch geprägt hat. Im Winnetou-Film wurden sie dann absurderweise vor der Landschaftskulisse Kroatiens mit französischen „Rothäuten“ umgesetzt, so dass die Spiegelung des Westens den wir sehen mindestens zweifach gebrochen wurde. 
In Interview berichtet die junge Frau von ihrer Hoffnung auf den ersten Besuch und der damit verbundenen für sie naheliegenden Vorstellung, dass sie dort auch einen asiatischen Lebenspartner finden würde. 
Das Video wiederum ist kein gewöhnliches Dokupic, sondern bettet diese Interviewparts und Hintergrundaufnahmen gekonnt immer wieder in stilllebenhafte, ruhige und durchkomponierte Raum- und Gegenstandsaufnahmen ein, die mit gesprochenem Text die Fragen nach Kultur und ihrer Transformation stellen.


Danke.

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